Am Anseilplatz trafen wir auf ein junges Paar, die den gleichen Plan verfolgten. Nach einer kurzen Unterhaltung ließen wir ihnen den Vortritt. Sie verabschiedeten sich mir den Worten „Nur alte Bergsteiger sind gute Bergsteiger.“ Wir sind im Alter zwischen Mitte 50 und Anfang 60. Auf unsere irritierten Gesichtsausdrücke hin erklärten sie uns, dass dies als Kompliment gedacht sei, weil alte Bergsteiger alle Gefahren im Berg über die Jahre hinweg überlebt haben. So gesehen fühlten wir uns geschmeichelt. Kurz darauf schnappte der erste meiner Karabiner ins Stahlseil – und die Kletterei begann.
Der Steig wurde vom Berchtesgadener Robert Koller initiiert und 2007 fertiggestellt. Er ist durchgehend gut versichert, hat keinen Notausstieg und weist den Schwierigkeitsgrad C/D auf. Zur Vorbereitung hatten wir das Topo eingehend studiert, den Wetterbericht gecheckt, alle uns zur Verfügung stehenden Infos über den Steig gelesen und mit unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten abgeglichen. Katja war mit mir zum Training Bouldern, mehrfach im Klettersteig „Monte Thysso“ im LaPaDu und im Vorjahr eine Woche in den Klettersteigen der Brenta unterwegs. Wir fühlten uns gut vorbereitet. An dieser Stelle soll unsere gemeinsame Kletterei durch die Wand weder dramatisiert noch bagatellisiert werden, doch die Tatsache, dass wir statt der veranschlagten 2,5 ca. fünf Stunden brauchten, lässt erahnen mit welchen Schwierigkeiten wir zu kämpfen hatten.
Aufgrund des relativ hohen Schwierigkeitsgrades und der Länge der Tour ließ Katjas Arm- und Beinkraft zunehmend nach. Mittlerweile waren wir an einem Punkt in der Wand angelangt, an der der Durchstieg leichter und sinnvoller war, als ein Umkehren und Abklettern. Unsere Rastschlingen kamen ausgiebig zum Einsatz. Zweimal hatte Katja einen „Durchhänger“. Der Fangstoß war jeweils so schwach, dass die Seilbremse ihres Klettersteigsets nicht auslöste. Glücklicherweise kam sie „nur“ mit Hämatomen und einem lädierten Sprunggelenk davon. Auf die Mitnahme eines Seils, mit dem wir eine Toprope-Sicherung mit Tuber oder Halbmastwurf hätten durchführen können, hatten wir verzichtet.
Als wir den Gipfel des Berchtesgadener Hochthrons (1.972 m) erreichten, lagen wir uns erleichtert in den Armen. Das Sprichwort „Uns ist ein Stein vom Herzen gefallen“ war in diesem Fall untertrieben, es war ein ganzer „Bergsturz“ an Last, der von uns abfiel. Im nahe gelegenen Stöhrhaus (1.894 m) ließen wir den Tag ausklingen – und nahmen eine selbstkritische Fehleranalyse vor.
Da zwei Nächte im Stöhrhaus geplant waren, gönnte sich Katja am Folgetag eine Regenerationspause und blieb auf der Hütte. Eckes und ich wanderten zur Schellenberger Eishöhle (1.570 m), der einzigen für Besucher zugänglichen Eishöhle Deutschlands. Da die Höhle nur zu Fuß erreichbar ist und es morgens regnete war der Besucherandrang überschaubar. Wir waren in unserem Zeitfenster die einzigen Besucher. Ausgestattet mit Helm, Stirnlampe und warmer Kleidung stiegen wir hinab in die Tiefen des Untersbergs. Fasziniert betrachteten wir das teils über 1.200 Jahre alte Eis, welches im Schein der Lampen glitzerte. Unser Atem kondensierte bei einer Lufttemperatur von um die 0° C. Die Höhle ist seit 1925 für Besucher zugänglich. Heute forscht die Arbeitsgruppe „Höhlenklimatologie“ der Ruhr-Universität Bochum darin. In der naheliegenden Toni Lenz Hütte (1.450 m) verarbeiteten wir unsere Eindrücke bei Semmelknödel und Weißbier, um anschließend zurück zum Stöhrhaus zu wandern.
Auf dem Weg dahin erreichte uns eine Textnachricht von Katja, sie sei gerade mit dem Rettungshubschrauber in die Kreisklinik Bad Reichenhall geflogen worden, um ihr Sprunggelenk zu untersuchen. Eckes und ich waren fassungslos! Die Röntgenaufnahme zeigte keine Fraktur, sodass das Distorsionstrauma ihres linken Sprunggelenks „nur“ ein Außenbandanriss war. Eine OP war nicht nötig. Schmerzadaptierte Teilbelastung sollte bis zur vollständigen Heilung ausreichen. Dies war die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht für Katja war, dass die gerade begonnene Bergwanderwoche für sie schon zu Ende war. In einem kurzfristig gebuchten Hotel in Schönau machte sie Wellness statt Wandern. Eckes und ich setzten, in Absprache mit Katja, unsere geplante Hüttentour fort.
Am Folgetag stiegen Eckes und ich zum Parkplatz Hinterrossboden (775 m) zu unserem dort geparkten Auto ab, besuchten Katja in ihrem Hotel, fuhren mit der Jennerbahn zur Mittelstation und wanderten nachmittags bei brütender Hitze, inklusive Gewitterstarkregen, zu unserem Übernachtungsziel Gotzenalm (1.685 m). Nach dem Abendessen, das Wetter hatte sich aufgeklart, spazierten wir zur Aussichtskanzel Feuerpalfen. Der Begriff Palfen bedeutet so viel wie Felsvorsprung, -stufe, -überhang. Der Blick 1.100 m hinunter auf St. Bartholomä am gegenüberliegenden Königseeufer war überwältigend. Mit dem Fernglas ließ sich sogar die Biwakschachtel in der Watzmann Ostwand erkennen.
Am Mittwoch starteten wir Richtung Regenalm, die ihrem Namen alle Ehre machte, durchquerten den Landtalgraben und machten Mittagspause auf der Wasseralm (1.416 m). Über die sogenannte „Himmelsleiter“ erreichten wir nach knapp 20 km Wanderung unser Tagesziel, das Kärlinger Haus (1.631 m).
Einen Tag später bestiegen wir die Schönfeldspitze (2.653 m), die auch als „Matterhorn der Berchtesgadener Alpen“ bezeichnet wird. Der Anstieg ist eine Mischung aus schwerem alpinem Steig mit ausgesetzten Kletterpassagen (bis zu 1+). Das Gipfelkreuz wurde von Anton Thuswalder gestaltet und nach Blitzschlag 2020 erneuert. Es stellt eine Marienfigur dar, die den toten Jesus horizontal auf Händen trägt. Mit Bestürzung erfahre ich bei der Internetrecherche für diesen Bericht, dass am 15. 8. 2023, knapp einen Monat nach uns, hier eine 29jährige Österreicherin beim Abstieg 200 m tödlich abgestürzt ist. Nach einer zweiten Nacht im Kärlinger Haus ging es weiter zum Ingolstädter Haus (2.177 m). Anhaltender Regen, böiger Wind und schlechte Sicht überzeugte uns davon, den geplanten Gipfel „Großer Hundstod“ auszulassen und stattdessen im Bett nach einer Brotzeit ein nachmittägliches Verdauungsschläfchen zu halten.
Ausgeruht ging es am nächsten Tag früh weiter, es sollte der längste Tag unserer Tour werden. Es ging zurück zum Kärlinger Haus, durch die Saugasse hinab nach St. Bartholomä, trafen dort Katja, die mit dem Schiff gekommen war. Mit Wanderstöcken und Orthese konnte sie sich hinkend bewegen. Nach einem gemeinsamen Mittagessen verabschiedeten wir uns wieder. Sie fuhr mit dem Schiff zurück. Eckes und ich stiegen über den Rinnkendlsteig zur Kühroint Alm (1.420 m) unserem Tagesziel auf. Nach 23,6 km, 1080 Hm Auf-, 1800 Hm Abstieg und etwas mehr als 10 Stunden Nettogehzeit fielen wir müde ins Bett.
Sonntag gönnten wir uns auf dem Nordgipfel des Watzmanns, dem Hocheck (2.651 m), bei bester Fernsicht eine lange Gipfelrast. Um anschließend auf dem Watzmann Haus (1.930 m) unsere letzte AV-Hüttennacht zu verbringen. Tags darauf trafen wir drei uns in Schönau und feierten das Ende unserer erlebnisreichen Wandertour mit einem gemeinsamen Bad im Königsee.
Unsere „Akkus“ um den Alltag zu Hause zu bewältigen, waren wieder aufgefüllt. Um es mit den Worten von Reinhard Karl, dem früh in den Bergen umgekommenen deutschen Extrembergsteiger zu sagen: „Ich verlor mich in die Berge, um mich wieder neu zu finden.“
Text: Markus Mittasch, Fotos: Markus Mittasch und Eckhard Deflize