Bergwandern im Karwendel
8. bis 13. Juli 2024
„Gérwentil“ der Speerschüttler ist der Mann, der diesem Gebirge seinen Namen gab. Er ließ sich im 13. Jahrhundert im Hinterautal nieder. Durch Lautverschiebung wurde daraus „Garwendel“ bis es schließlich zum heute gebräuchlichen „Karwendel“ kam – unserem diesjährigen Bergwanderziel. Dieses Jahr besteht unsere Gruppe aus vier Personen: Claudia, Katja, Eckes und Markus – alle aus tiefster Herzensüberzeugung Natur- und Bergliebhaber.
Wir verlassen das letzte Stück Straßenasphalt und steigen auf einem schmalen Naturpfad durch den Mischwald bergauf. Der würzige Duft von Moos, Baumrinde und Nadelhölzern umgibt uns. Wir pflücken einige Blätter Sauerklee, stecken sie in den Mund und schmecken den herb-säuerlichen Geschmack. Nach einigen 100 Hm Aufstieg überqueren wir die Sulzleklamm auf einer über 50 m langen, spektakulär gebauten Hängebrücke, die von der DAV-Sektion Mittenwald 2010 eingeweiht wurde. Unsere Smartphone-Kameras sind im Dauereinsatz. Später erreichen wir unser erstes Tagesziel der Tour, die auf 1523 m Höhe gelegene Brunnsteinhütte.
Der Naturpark Karwendel ist mit einer Fläche von über 720 km² einer der größten Naturschutzgebiete der Ostalpen. Geologisch betrachtet bilden Wettersteinkalk und Dolomit die Hauptgesteinsarten. Am nächsten Tag starten wir früh morgens Richtung Osten auf Weg Nr. 291 zur Brunnsteinanger, einem breiten grasigen Sattel auf 2095 m Höhe, genau auf der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Österreich. Wir richten ein Rucksackdepot ein und besteigen schnellen Schrittes die Brunnsteinspitze (2192 m) unser erster von sechs geplanten Gipfeln an diesem Tag. Dies mag ambitioniert klingen, relativiert sich aber etwas, wenn man weiß, dass unser Weg über den Mittenwalder Höhenweg führen wird. Dies ist ein klassischer Grad-Klettersteig der alten Schule, bei dem diverse Gipfel „mitgenommen“ bzw. überschritten werden.
Mit geschulterten Rucksäcken geht es weiter Richtung Norden zum Anseilplatz, um dann endlich wieder die typischen Klettersteiggeräusche – das Zuschnappen des Karabinerverschlusses und das anschließende „Ratschen“ des Aluminiumkarabiners über das Stahlseil – zu hören. Wir sind glücklich. Das Wetter ist stabil mit einem Mix aus Sonne und Cumulus humilis Wolken. Die klettertechnischen Schwierigkeiten sind moderat. Der Steig ist mit dem Schwierigkeitsgrad „B“ (mäßig schwierig) bewertet. Zahlreiche Leitern, Eisenstifte und sogar Bretter liefern Hilfestellung bei der Fortbewegung. Nach der Überschreitung von von Kirchl-, Sulzeklamm-, Südlicher und Mittlerer Linderspitze steigen wir über den Heinrich-Noe-Steig Richtung Westlicher Karwendelspitze (2385 m) weiter. Am Gipfelkreuz angelangt eröffnet sich ein grandioser Talblick auf den ca. 1500 m tiefer liegenden Ort Mittenwald.
Auf der Sonnenterrasse der Bergstation der Karwendelbahn gönnen wir uns ein bernsteinfarbenes, alkoholfreies Weißbier, welches direkt vor Ort in Deutschlands höchstgelegener Brauerei gebraut wird. Einen klaren Kopf und vor allem sicheren Tritt brauchen wir anschließend noch auf den 700 Hm Abstieg über ein Teilstück des Karwendelsteigs. Die Topographie des Geländes und die Beschaffenheit des Untergrundes (loses Geröll und Blockschutt) sind typisch für das Karwendel und verzeihen keinen Fehltritt. Wie es bei „schwarz“ gekennzeichneten Steigen der Fall ist, besteht an einigen Stellen potentielle Absturzgefahr. Nach über zehn Stunden Bruttogehzeit erreichen wir hungrig die Mittenwalder Hütte (1515 m) auf der wir die einzigen Übernachtungsgäste sind.
Am nächsten Tag führt uns unser Weg über den Ochsenbodensteig zur Hochlandhütte (1630 m), die wir kurz vor einem aufziehenden Gewitter erreichen.
Zu einer sicheren und verantwortungsvollen Tourplanung gehört auch, dass während der Tour kontinuierlich die äußeren Bedingungen (Wetter, Schneelange, Steinschlaggefahr etc.) mit den persönlichen Fähigkeiten und Wünschen abgeglichen werden. Diesem Grundsatz folgend entscheiden wir uns, uns für einen Tag lang zu trennen. Die Mädels wählen den Genusswanderweg ins Tal, inklusive Abkühlung im Gebirgsbach mit anschließender Taxifahrt. Die Jungs wählen den Fußweg über den Gjaidsteig der eindrückliche Bergerlebnisse bereithält. Einsamkeit: Sieben Stunden lang begegnen wir keinen einzigen Menschen. Abgeschiedenheit: Handy-Netz-Empfang gab es nirgendwo. Tierwelt: Gämsen und Murmeltiere kreuzen unseren Weg. Erfrischung: Wir trinken kühles Quellwasser. Herausforderung: Die zahlreichen Firnfelder umgehen wir, wenn möglich, oder ziehen die ersten Spuren des Jahres darüber. Ausgesetztheit: Der drahtseilversicherte Steilaufschwung direkt am Abgrund zum Bäralpl-Sattel fordert Schwindelfreiheit. Das gemeinsame Wiedersehen unserer vierköpfigen Gruppe abends auf dem Karwendelhaus (1765 m) feiern wir mit Latschenkiefernschnaps.
Weil es im und am Haus keinen Handyempfang gibt und somit auch keinen aktuellen Wetterbericht, gibt der langjährige Hüttenwirt Andreas Ruech jeden Abend im Gastraum nach dem Abendessen persönlich darüber Auskunft. In Form eines Vortrags wird nicht nur die aktuelle Wettervorhersage, sondern auch Schneelage und allgemeine Gangbarkeit der verschiedenen Touren besprochen. Angereichert wird der Vortrag mit aktuellen, von ihm selbst aufgenommenen Fotos von seiner eigenen Drohne. Dieses allabendliche „Hüttenwirt-Vortrags-Ritual“ ist informativ, charmant und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Wir sind begeistert.
Allerdings nicht von den Aussichten für den nächsten Tag, der laut unserer Tourplanung den höchsten Berg des Karwendels, die Birkkarspitze (2749 m) vorsieht. Die Vorhersage für Niederschlag, Wind und Sichtverhältnisse sind übel. Somit folgen wir dem Grundsatz „Safty first“ und verzichten schweren Herzens auf die Birkkarspitze. Wir wählen als Alternativziel das Hochalmkreuz (2192 m) den Hausberg, den wir am nächsten Tag bei Dauerregen besteigen.
Der nächste Tag ist bereits unser letzter Bergtag. Bei deutlich besserem Wetter wandern wir die etwa 900 Hm bergab durch das fast 20 km lange Karwendeltal Richtung Scharnitz. Wie immer, wenn eine Bergwanderwoche zu Ende geht, sind wir etwas melancholisch. Um es mit den Worten der österreichischen Bergsteigerlegende Gerlinde Kaltenbrunner zu sagen: „Hier oben fühle ich mich frei, ich kann alle Verpflichtungen hinter mir lassen. Am Berg habe ich ein anderes Leben als im Tal. Das Bergsteigen ist einfach mein Leben.“