Ein Pflichtbesuch
Wer hat schon einmal von der Aiguille Dibona gehört? In Deutschland ist dieser Berg nicht besonders bekannt, dafür in Frankreich umso mehr. Er liegt im Herzen der Dauphiné, ist 3131 m hoch und vom Tal aus nicht zu sehen. Aber wenn einem zufällig ein Bild von der Aiguille über den Weg läuft, dann will man da hoch und nimmt dafür auch einen längeren Zustieg in Kauf.
Zustieg
Marco, Uwe und ich verlängern diesen Zustieg im September 2022 noch einmal deutlich, weil wir nur von einem einzigen Zustieg wissen. In einigen Karten ist auch nur einer verzeichnet, aber wir wissen jetzt, dass es zwei gibt. Der erste, der an der Straße von Saint-Christophe-en-Oisans nach La Bérarde mit einem Wegweiser versehen ist, ist landschaftlich großartig, aber durch den größeren Bogen und einige Zwischenabstiege doch deutlich länger als der, der danach kurz vor Les Étages von der Straße abzweigt und immer noch mit 2,5 h angegeben ist. Zum Glück haben wir ein ausreichendes Zeitpolster und kommen trotzdem pünktlich zum Abendessen auf der Soreiller-Hütte (2719 m) an, die fast unmittelbar am Fuß der Aiguille Dibona liegt. Wenigstens müssen wir morgen beim Weg zurück zum Auto dann nicht den gleichen Weg nehmen.
Visite Obligatoire, 6+/7-, 12-14 Seillängen, 437 Klettermeter
Welche Tour will man klettern, wenn man hier oben ist? Na, die „Visite Obligatoire“, den Pflichtbesuch also, und üblicherweise wollen das ziemlich viele. Denn die Tour ist sehr homogen – fast durchgehend 6+/7-, hat guten Fels und – nicht unwesentlich – ist gut versichert.
Am nächsten Tag soll das Wetter noch akzeptabel sein, am späten Abend aber schlechter werden, und wir sind mitten in der Woche auf der Hütte. Vielleicht haben wir deswegen Glück, denn es gibt nur noch eine weitere Seilschaft, die ebenfalls die „Visite Obligatoire“ klettern will. Es sind Franzosen aus Lyon und die können wir am Abend schon kennenlernen. Am nächsten Morgen klettern wir die Zustiegslänge noch seilfrei und bis wir die Gurte angelegt und die Kletterschuhe angezogen haben, ist diese Seilschaft auch bei uns angekommen. Die Franzosen sind ebenfalls zu dritt, und wir lassen sie am Einstieg vorbei, weil der Vorsteiger (es bleibt immer derselbe) anscheinend genau weiß, wo es lang geht. Die Haken weisen zwar auch ganz gut den Weg, aber so ist es für uns noch offensichtlicher, wo wir hin müssen und wir haben keinen Druck von hinten. Sie sind tatsächlich mehr oder weniger genauso schnell wie wir, und wir verstehen uns problemlos, wenn wir uns zwischendurch die Stände teilen.
Marco startet mit der ersten richtigen Seillänge und muss direkt einen unangenehmen Wulst überwinden. Wir sind noch im Schatten, und mit kalten Fingern macht das nicht so richtig Spaß, aber er bekommt das ganz gut hin. Ich muss mich erst wieder an das Klettern im Granit gewöhnen, weil wir vorher nur im Kalk unterwegs waren. Es dauert eine Weile, bis ich ein Gefühl für die Reibung und die Dellen im Fels bekomme. Netterweise macht Uwe mit der nächsten Seillänge weiter und die ist nach meinem Gefühl noch einen Tick schwerer als die erste. Es ist nämlich nicht direkt ersichtlich, wie man die jeweilige Stelle am besten meistert: mal mit Seitgriffen, mal auf Reibung, mal mit dem Anpiazen einer sich unverhofft auftuenden kleinen Schuppe. Aber so allmählich werde ich mit der geforderten Art der Kletterei vertrauter und kann deshalb auch mit der dritten Seillänge weitermachen. Der fette Riss zu Beginn kommt mir zusätzlich entgegen.
Die vierte Seillänge ist die fotogenste der ganzen Tour. Marco genießt die anfängliche Querung, die folgende Wulst zu überwinden erfordert dann mehr Krafteinsatz. Wir klettern mittlerweile in der durch dünne Schleierwolken nur noch leicht gedämpften Sonne und können die Kletterei genießen. Uwe packt die fünfte Seillänge an und kann sich auf anhaltend schwere Wand- und Risskletterei freuen, wobei die Risse häufig offen und nicht so richtig griffig sind. Danach nimmt die Tour eine kurze Auszeit, denn es folgen zwei 5er-Seillängen, in denen zwischendurch auch mal leichtere Rampen überwunden werden müssen. Die erste dieser beiden Seillängen übernehme ich, wir bleiben also im Turnus. In der zweiten hat Marco das Vergnügen, die schwierigste Stelle kurz vor dem Stand mit ordentlichem Seilzug anzugehen, weil er vorher zweimal um die Ecke klettern musste.
Über dem Stand droht die achte und eindrücklichste Seillänge der ganzen Tour, durchgehend mal mehr, mal nur leicht überhängend und zusätzlich auch noch schattig. Unsere Vorgänger brauchen hier etwas länger, weil die beiden Nachsteiger technisch klettern, so dass wir eine kleine Ess- und Trinkpause einlegen. Uwe nimmt sich dann der Seillänge an und ist so richtig in seinem Element, denn die Kletterlinie zieht sich durchgehend entlang von immer neuen, griffigen Schuppen durch die überhängende Wand. Ich habe das Privileg als dritter zu klettern, denn Marco hat vor mir die Seile entwirrt. Jetzt muss ich nur noch ausklinken, viel länger hätte die Seillänge für meinen Vorrat an Kraft trotzdem nicht sein dürfen.
Die folgende Seillänge wird im Topo gar nicht gezählt, weil sie nicht schwer ist und nur dazu dient an den Fuß der Spitze der Aiguille Dibona zu kommen, so dass wir trotzdem in der bisherigen Vorstiegsfolge weiterklettern können. Gleichzeitig offenbart sich hier das Problem, das dadurch entsteht, dass alle Touren auf der immer enger werdenden Spitze der Aiguille enden. Der Stand vor uns ist nämlich von zwei Katalanen belegt, die sich zwischen den Franzosen und uns eingefädelt haben. Sie haben den „Fissure Madier“ geklettert und ihre Ausstiegsvariante mündet hier ein. Und weil wir uns mit ihnen auch die nächsten beiden Stände teilen müssen, bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten, bis die Katalanen den Stand verlassen haben. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es an dieser Stelle aussieht, wenn noch mehr Betrieb ist, denn hier kreuzt auch noch der „Voie des Savoyards“.
Wir können jetzt also nicht mehr den Franzosen folgen, denn die sind mittlerweile nicht mehr zu sehen. Aber die weitere Orientierung bleibt trotzdem einfach, denn die „Visite Obligatoire“ folgt weiter den blinkenden Bohrhaken, während die anderen Touren Schlaghaken und selbst abzusichernde Risse einsammeln. Die nominell neunte Seillänge, die Marco jetzt klettert, ist unscheinbar und man sieht ihr den ausgeworfenen glatten 6. Schwierigkeitsgrad nicht an, aber wenn man in ihr drinsteckt, merkt man, dass man sich genau überlegen muss, wie man die einzelnen Passagen angeht, denn sonst wird es gleich schwerer als 6.
Die zehnte Seillänge ist wieder für Uwe reserviert, und er braucht bei seinem Vorstieg überraschend lange, demnach wird es nicht ganz so einfach sein. Bei sieben Bohrhaken auf 40 m darf man aber auch schon einmal etwas länger überlegen, wie man weiterklettert. Das Prädikat „gut versichert“ stimmt halt nur im alpinen Maßstab. Beim Wechsel von der anfänglichen rechten Rissspur in die nächste Rissspur weiter oben balanciere ich mehrmals auf gut Glück nach links, bevor meine Kletterposition wieder stabil ist. Marco klettert von Anfang an weiter links, und das geht anscheinend besser. Ihm fällt die gesamte Seillänge deutlich leichter als mir, und damit empfiehlt er sich ganz eindeutig dafür, schon die nächste Seillänge vorzusteigen, obwohl ich eigentlich dran wäre. Diese elfte Seillänge ist zweigeteilt: auf eine erste steile Schuppenpassage folgt eine deutlich leichtere Querung direkt an die Kante, an deres dann mit einer überhängenden Schuppe richtig zur Sache geht. Diesmal ist Uwe so nett, mir die Seile zu entwirren, bevor ich mich als dritter durch diese Schuppe hochkämpfen darf. Marco meint, dass Uwe und ich diese Stelle nicht optimal angegangen sind, aber wir haben keine bessere offensichtliche Lösung gefunden.
Bleibt die letzte, nominell zwölfte Seillänge (eigentlich sind‘s vierzehn, s.u.). In der gibt es überwiegend leichte Gratkletterei, die zwischendrin mit einem Schulterriss gewürzt ist: das ist dann schon eher was für mich. So richtig schruppen muss man in dem Riss aber nur für etwa drei Meter, und am Ende dieser drei Meter freut man sich zum ersten und einzigen Mal in der gesamten Tour so richtig über einen Friend am Gurt. Der Rest des Grats ist ausgesetzt, aber einfach. Die aus der Ferne so filigran wirkende oberste Spitze der Aiguille Dibona ist nämlich in Wirklichkeit ein sich nach hinten ziehender Gratrücken. Unsere 50m-Seile reichen genau bis zu einem Zacken auf dem Gipfel, und als wir alle dort oben angekommen sind, zieht sich der Himmel noch einmal richtig frei, so dass wir eine ausgedehnte Gipfelrast genießen können.
Fehlt noch der Abstieg:
Auf der Rückseite des Gipfelgrats müssen wir zunächst zweimal 25 m abseilen, wobei die Abseilstände gut zu finden sind. Darauf folgt eine ca. 50 m lange, absteigende Querung meistens über ein Band weiter nach links, die man aber besser noch mit Kletterschuhen macht, denn es gibt zwischendurch mehrmals Unterbrechungsstellen. Danach wechseln wir die Schuhe, denn der weitere Abstieg zur Hütte verläuft nur noch durch Blockgelände und Schutt. An der Hütte sammeln wir unsere deponierten Rucksäcke ein und packen um, bevor wir diesmal den originalen Weg nach unten zur Straße nehmen, der tatsächlich deutlich angenehmer ist als unsere Aufstiegsvariante. Unter ein paar Tropfen Regen – das Wetter hat sich also an den Wetterbericht gehalten – gibt es immer wieder tolle Rückblicke auf die Aiguille Dibona, bevor sie unseren Blicken entschwindet. Von der Hütte bis zur Straße sind es aber auch jetzt noch 1125 Höhenmeter, und das ist nicht unanstrengend. So richtig lohnen würde sich der Aufwand, wenn man dort oben mehrere Touren klettern könnte, aber auch für den „Pflichtbesuch“ alleine ist es der Mühe wert.
Gerhard Biallas